Ein kurzer Streifzug durch die TCM-Medizinphilosophie

Dieser Artikel richtet sich an Menschen, die mehr über die wichtigsten Begriffe der chinesischen Medizinphilosophie erfahren, jedoch keine dicken Medizinbücher lesen möchten.

Hand in Hand: Medizin und Philosophie

In China ist die Medizin tief in der Philosophie verwurzelt. Eine Trennung zwischen Medizin und Philosophie gibt es hier nicht:

„Bemerkenswert ist, dass die Medizin in China niemals als ein vom philosophischen Diskurs isoliertes Fachgebiet begriffen wurde. Ihre Theorien und Texte sind vielmehr Ausdruck eines kontextgebundenen Denkens, weswegen ein tiefgreifendes Verständnis nur vor dem entsprechenden geistesgeschichtlichen Hintergrund erzielt werden kann.“

Dominique Hertzer: „Das Leuchten des Geistes und die Erkenntnis der Seele“

Nur wer den philosophischen Hintergrund der medizinischen Techniken und Anwendungen genau kennt und ihn verinnerlicht hat, wird also als Arzt oder Ärztin gute Resultate erzielen. Ein Grund mehr, sich näher mit den wichtigsten Begriffen der chinesischen Medizinphilosophie zu beschäftigen. Um diesem Artikel eine Struktur zu geben, stelle ich ein oft gehörtes Zitat von Lao Zi an den Anfang. Diese Idee ist zwar nicht neu, jedoch effizient:

„Dao bringt Einheitlichkeit hervor.
Die Einheitlichkeit bringt Doppelheit hervor.
Doppelheit bringt Dreifaches hervor.
Dreifaches bringt die unzähligen Dinge hervor. 

Dao De Jing, Kapitel 42, Übersetzung von Lutz Geldsetzer

Dao: Das unaussprechliche Namenlose

Seit mehr als fünftausend Jahren denken Menschen darüber nach, was Dao sein könnte. Es war deshalb unvermeidbar, dass verschiedene Denkrichtungen zu unterschiedlichen Definitionen gekommen sind. Dazu Dominique Hertzer:

„Während dao im Konfuzianismus jedoch mehr den individuellen Weg der moralischen Selbstkultivierung und die verschiedenen Aufgaben des Einzelnen bezeichnet, wird der Begriff im Daoismus weiter gefasst. Dort wird er als ein universell gültiger und wirksamer Weg, den „es zu machen oder herzustellen“ gilt verstanden und welcher den gesamten Kosmos gleichermassen durchströmt wie er ihn hervorbringt. Der englische Neologismus von dao im Sinne von „way-making“ offenbart nicht nur die dynamische Seite des dao, sondern unterstreicht die Bedeutung der Prozesshaftigkeit und des Wandels innerhalb allen kosmischen Geschehens. Der Aspekt der Prozesshaftigkeit hat dabei – ganz im Unterschied zum abendländischen Denken – unbedingte Priorität vor der Form und dem Sein, im Sinne eines Zustandes.“

Dominique Hertzer: „Das Leuchten des Geistes und die Erkenntnis der Seele“

Persönlich halte ich mich gerne an den Spruch von Lao Zi:

 „Dao, das ausgesprochen werden kann, ist nicht das eigentliche Dao. Ein Name, der sich dafür nennen lässt, ist nicht die eigentliche Bezeichnung.”

Lao Zi: Dao De jing, Kapitel 1

Diese Definition des Dao geht zwar nicht auf den Aspekt des „way-making“ ein, zeigt jedoch, dass es unmöglich ist, Dao aussschliesslich mit dem Verstand zu erfassen. Man kann sich ihm mit dem Verstand nähern, doch man kann Dao nicht denken. Man kann es nicht einfach mit einem Namen versehen und in eine Schublade stecken. Eventuell kann man es fühlen, wenn man durch Meditation die vollkommene innere Stille erreicht hat. Aber sobald man versucht, das Erlebte durch Worte festzuhalten, beginnt man zu denken und verliert die innere Stille und somit den Kontakt zum Dao. „Dao, das ausgesprochen werden kann, ist nicht das eigentliche Dao.“ Dao ist das unaussprechliche Namenlose.

Die Einheitlichkeit: Wu ji

Das Dao bringt die Einheitlichkeit hervor: Wu ji. Wu ji ist der Gipfelpunkt des Nichtseins, hier existiert alles und nichts gleichzeitig und ohne physische Form:

Man sieht einen dunkel gezeichneten Kreis, der eine helle Fläche abgrenzt. Das Wichtige am Bild ist die leere Fläche, wie auch bei einem Krug der Hohlraum wichtig ist.
Wu Ji
Bild Wikimedia

„Der Anfang der Welt, das wu ji, ist zugleich alles und nichts, absolute Stille und endlose Bewegung. Das Nichts ist kein Vakuum, keine Nichtexistenz im westlichen Sinn, sondern eine Manifestation der kommenden Dinge, das (Noch) Nicht-Sein.“

Reiner Winter: Philosophie aus dem Reich der Mitte

Aus diesem Potenzial entsteht die dingliche Welt und in dieses Potenzial kehrt alles nach dem Zerfall zurück. Wobei es hier Mut zur Lücke braucht, damit wir dieses Potenzial nicht mit Ideen von Gott, Göttlichkeit oder Schicksal aufladen, um die Schöpfung der Welt erklären zu wollen. Es gibt keinen „Erfinder“ des Wu ji, es ist einfach da.

Die Zweiheit: Taj ji

Yin_Yang_Symbol

Und wie das Wu ji „einfach da“ ist, ist auch das Taj ji, der „Gipfelpunkt des Seins“ oder auch der „Firstbalken“, einfach da und tritt aus dem Wu ji hervor. Symbolisiert wird der „Gipfelpunkt des Seins“ durch das bekannte Yin-Yang-Symbol. Aus der Einheit ist also die Zweiheit hervorgegangen. Wobei diese Zweiheit im Prinzip nicht besteht, da Yin und Yang nur Beschreibungen der selben Medaille sind. Damit dies verständlich wird, muss ich etwas ausholen und über diese Medaille, das Qi, schreiben.

Die Lebenskraft: Qi

Alles Leben ist Qi: Lebenskraft. Das chinesische Schriftzeichen „Qi“ setzt sich zusammen aus dem Zeichen für ziehende Wolken und dem einer Reisähre. Qi ist also gleichzeitig luftig und erdig. Es ist in ständiger Bewegung zwischen stofflich (erdig) und feinstofflich (luftig), wobei es gleichzeitig beides, die Erde und der Himmel, sein kann.

„Qi ist in einem konstanten Zustand des Flusses und in veränderlichen Zuständen der Aggregation. Wenn Qi kondensiert, wandelt sich Energie um und häuft sich als physische Form an.“

Giovanni Maciocia: Die Grundlagen der Chinesischen Medizin

Die Welt also ist Qi in verschiedenen Aggregatszuständen, wobei Qi gleichzeitig alle Aggregatszustände einnehmen und gleichzeitig A und Nicht-A sein kann (nichtaristotelische Logik). Qi kann somit als „Kraft-Materie-Kontinuum“ bezeichnet werden; ein Begriff, der die Prozesshaftigkeit und ständige Wandel dieser Lebenskraft ausdrücken kann.

Die Beschreibung der Welt: Yin und Yang

Yin und Yang sind wohl die im Westen bekanntesten chinesischen Begriffe. Meist werden sie nicht übersetzt. Ihre Relativität und Abhängigkeit wird oft weggelassen und ihre Bedeutung wird in unser „teilchengeprägtes“ Weltbild gepresst. Doch woher kommen die Begriffe und was bedeuten sie? Helmuth Willhelm erklärt sie uns folgendermassen:

„Yin hatte ursprünglich nur das Bild der Wolke, bedeutete also das Beschattende, Dunkle. Aber auch der Gedanke des Nahrung spendenden Wassers ist mit diesem Bild schon gegeben. Das Zeichen Yang zeigt einen in der Sonne flatternden Jak-schweif oder Wimpel. Etwas glitzerndes, Helles war also damit dargestellt. Die Kommandogewalt, die dieses Banner als Symbol ihrer Übergeordnetheit aufpflanzt, ist darin auch enthalten, und diese Bedeutungszutat hat sich später nicht verloren. Nach Hinzufügung des Klassenzeichens Bergabhang bedeutet Yin die dunkle, beschattete Seite des Abhangs, also den Norden des Bergs, Yang die helle beleuchtete, also den Süden des Bergs. Bei der Betrachtung eines Flusstales bedeutet Yang die beleuchtete Nordseite und Yin die schattige Südseite. Diese Anwendungen beider Wörter, die auch heute noch üblich sind, geben uns für die Relativität des Beziehungssystems einen guten Begriff.“

Hellmuth Wilhelm: Die Wandlung, 1985

Yin und Yang sind also Beschreibungen der Welt und selbst keine Kräfte oder Phänomene des Lebens:

„Um Missverständnissen vorzubeugen: yin und yang stellen keine eigenen, für sich seienden Urkräfte der Welt dar, sondern bilden ein metaphorisches Vergleichspaar, mit dem die Welt erklärt wird. Man müsste streng genommen stets diese Vergleichshinsicht betonen, etwa in der Formulierung: Wasser und Feuer sind wie yin und yang. Wenn in
vielen Büchern die Formulierung Wasser ist “yin” steht, dann muss die
dahinterstehende Metaphorik mitgedacht werden, sonst kommt es leicht zu Missverständnissen oder zu falschen, ontologischen (Über)interpretationen.“

Reiner Winter: Philosophie aus dem Reich der Mitte

Das Sein (Taj ji) ist in der chinesischen Weltsicht nicht aus verschiedenen Teilchen aufgebaut, sondern es wird pausenlos von der Lebenskraft, Qi, geschaffen. Alles ist im Fluss, das Sein ist Wandlung. Qi ist ein Kraft-Materie-Kontinuum, das gleichzeitig alle Formen und Zustände der Welt einnimmt und erschafft. Yin und Yang hingegen sind keine eigenen Kräfte, sondern sie beschreiben verschiedene Aggregatszustände der Lebenskraft Qi.

Fortsetzung folgt…

Bis jetzt habe ich das Zitat von Lao Zi folgendermassen „eingedeutscht“:
Das unaussprechliche Namenlose (Dao) erzeugt das, was sein könnte, das Potenzial (Wu Ji).
Aus dem Potenzial entsteht das Kraft-Materie-Kontinuum (Qi) und dadurch das Sein (Taj ji).
Das Kraft-Materie-Kontinuum (Qi) nimmt gleichzeitig verschiedene Aggregatszustände ein und wandelt sich ständig. Diese Dynamik kann durch Yin und Yang beschrieben werden.

Es fehlt nun also noch die „Dreiheit“. Doch die ist Stoff eines zukünftigen Artikels….