Nach der Ausbildung 2

Fachbücher
Im letzten Artikel ging es um die Unsicherheit als Berufseinsteigerin und wie sie durch üben und trainieren gemildert werden kann. Heute geht es um die Grundhaltung bei der Arbeit aus Sicht der chinesischen Medizinphilosophie.

Warum die chinesische Medizinphilosophie?

Die chinesische Medizin und die chinesische Philosophie sind eng miteinander verbunden. Deshalb muss man die Grundlagen der chinesischen Weltsicht verstehen, damit der Aufbau der Medizin erkennbar wird. Der Einfluss der chinesischen Medizin auf die nichtmedizinische Kinesiologie wiederum ist gross. Speziell das Konzept der fünf Wandlungsphasen („die fünf chinesischen Elemente“) und die Yin-Yang-Theorie werden in der Praxis oft genutzt. Da die Kinesiologie stark praxisorientiert ist, wird die Theorie dieser Konzepte nur gestreift. Vertieftes Hintergrundwissen kann deshalb auch für geübte Anwenderinnen und Anwender interessant und inspirierend sein. Dieser Artikel setzt jedoch keine medizinischen oder philosophischen Kenntnisse voraus.

Tugendhaft

Die chinesische Philosophie hat eine dezidierte Meinung, was Personen, die mit anderen Menschen arbeiten oder Denkkonzepte erarbeiten betrifft:
“Wenn von so vielen westlichen Ethikern mit recht mundanem Lebenswandel gesagt werden konnte, sie hätten sich nur als Wegweiser zur Tugend verstanden und brauchten daher nicht selber tugendhaft zu sein, so wäre das in China ganz undenkbar. Und zwar deshalb, weil es nicht in erster Linie auf die Erkenntnis der Tugend und des Guten ankommt, sondern auf das Gut- und Tugendhaftsein des Philosophen. Von ihm wird verlangt, dass die Tugend und das Sein in der Person zusammenfällt. „
Lutz Geldsetzer, Han-ding Hong: Chinesische Philosophie

Dieses „Gut- und Tugendhaftsein“ des Philosophen selbst, nannte man Cheng. Lutz Geldsetzer erklärt, dass im Begriff „Cheng“ Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und auch Echtheit mitschwängen und man auch die Tugendhaftigkeit, das Gute und die Selbstbeherrschung hinzunehmen müsse, um sich eine Vorstellung von Cheng machen zu können. Nur wer Cheng habe, könne ein echter Herrscher sein und “alles durchdringen”. Deshalb bildeten die Philosophen Chinas “ihr Innerstes aus und wurden dadurch tugendhaft”.

Wirken und reflektieren

In gewissem Umfang fliesst diese chinesische Geisteshaltung auch in unsere tägliche Arbeit als westliche Therapeutin oder Heiler ein. Wir nennen es hier nicht Tugendhaftigkeit, sondern Ethik und Eigenprozess: Wir arbeiten während der Ausbildung an uns, indem wir die eigene Methode an uns selbst anwenden. Später reflektieren wir unsere tägliche Arbeit in der Inter- oder Supervision. Wir erarbeiten uns so, um es mit dem Psychotherapeuten Carl Rogers zu sagen “ein zusammenhängendes und ständig sich weiterentwickelndes, tief in des Beraters Persönlichkeitsstruktur verwurzeltes Sortiment von Einstellungen”, welches durch “Techniken und Methoden, die mit diesem System übereinstimmen, ergänzt wird”. Für mich klingt das im Prinzip wie die Definition von „authentisch sein“.

Um einen Bogen zu meinem letzten Artikel zu schlagen: Die Techniken zu beherrschen, sie in und auswendig zu lernen, ist zwar wichtig, doch nur „die halbe Miete“. Sonst gäbe es bestimmt bereits Physiotherapieroboter, chiropraktische „Wirbelsäulenknackmaschinen“ oder auch die vollautomatisierte Psychotherapie.

Das „Herrschen“

Die Philosophen Chinas bildeten also “ihr Innerstes aus und wurden dadurch tugendhaft”. Einerseits taten sie dies, um anderen zu dienen, anderseits wollten sie selbst Einfluss nehmen:

“Nicht Selbsterkenntnis um ihrer selbst willen und als Vermehrung und Vertiefung des Wissens war das Ziel. Auch ging es nicht einmal um ein “Selbst” als Kern des Individuums und der je eigenen Persönlichkeit – von der China ohnehin niemals einen dem westlichen vergleichbaren Begriff entwickelte. In China stand die Frage von Anfang an im Kontext des praktischen Wirkens und insbesondere des Herrschens.”

In Bezug auf dieses “Herrschen” müssen wir in der Klientenarbeit ehrlich mit uns selbst sein. Vom gleichberechtigten Unterstützen einer Person ist es nur ein kleiner Schritt zum entmündigenden Beraten. Hier braucht es – gerade in Methoden, die sich auf die Partnerschaftlichkeit zwischen Therapeutin und Klient berufen – ein ständiges Hinterfragen, der eigenen Einstellungen und der Kommunikation, damit sich die Klientinnen und Klienten frei entwickeln können.

Entspannt und authentisch

Zusammenfassend kann man – basierend auf der chinesischen Grundhaltung in der Arbeit mit Menschen – ein klares Anforderungsprofil einer Therapeutin, eines Heilers oder jedes sich mit Denken beschäftigenden Menschen erstellen. Es besteht hauptsächlich aus Selbstreflektion und dem Versuch, die daraus gewonnenen Erkenntnisse im privaten und beruflichen Alltag umzusetzen. Dieser Eigenprozess lässt uns die eigenen Grenzen und Möglichkeiten erkennen. Daraus entsteht eine entspannte und authentische Art zu sein und zu handeln. Kombiniert mit einer zur Therapeutin passenden Technik, entsteht so ein kraftvolles Team.