Im englischen Sprachraum ist „Kinesiology“ die Bewegungswissenschaft. Dies hergeleitet vom griechischen Wort „kinesis“ = Bewegung und „logos“ = Lehre. Davon ist in diesem Artikel jedoch nicht die Rede. Es geht auch nicht um die „Angewandte Kinesiologie (AK)“, denn diese wird hauptsächlich in der Chiropraktik eingesetzt. Vielmehr geht es in diesem Artikel um die nicht-medizinische (komplementärtherapeutische) Kinesiologie, die in der Schweiz gut verankert ist.
Die Methode
Was kannst du dir also unter nicht-medizinischer Kinesiologie vorstellen? Ich würde sagen: eine Werkzeugkiste. Wobei ich das nicht abschätzig meine, denn in dieser Kiste finden sich bewährte Techniken aus der
- Osteopathie,
- Chiropraktik,
- Physiotherapie und
- der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM).
Da jeder Therapeut und jede Therapeutin einzigartig ist, gibt es auf der Welt viele solcher Werkzeugkisten und jede ist etwas anders gefüllt. Und weil es Menschen mit Sendungsbewusstsein gibt – in der Kinesiologie sind sie häufig anzutreffen – markieren solche Menschen ihre Kiste mit einem eigenen Namen.
Generationen von kinesiologischen Werkzeugkisten
Der Chiropraktor John Thie war der erste, der in den 1970er-Jahren in Amerika eine solche Kiste füllte und sie „Touch for Health“ nannte. Er stellte Übungen zusammen, die medizinische Laien zuhause anwenden konnten. Sein „Best of“ wurde ein voller Erfolg. Etwas später begannen in Kalifornien die Bewegungspädagogin Gail und der Erziehungswissenschaftler Paul Dennison eine Kiste mit Techniken gegen Lernblockaden zusammenzustellen. Sie nannten sie „Brain Gym“. Pionierin in der Schweiz war in den frühen 80er-Jahren die Zürcherin Rosmarie Sonderegger. Sie fügte der Kiste von John Thie wichtige Techniken bei, ergänzte ihre eigene Kiste durch die personenzentrierte Psychologie („Gesprächstherapie“) und nannte sie „Integrative Kinesiologie“.
Seither wurden immer mehr Kisten mit mehr oder weniger den gleichen Techniken bestückt und – es geht ja oft um Marketing – neu benannt. Mittlerweile muss der schweizerische Verband KineSuisse sogar von „Generationen“ reden. Positiv ausgedrückt ist diese Methode also in dauernder Bewegung und Entwicklung. Kritischer betrachtet zeigen sich aber Tendenzen zur Beliebig- bis hin zur Grenzwertigkeit, und es lohnt sich deshalb, genauer hinzuschauen, bevor man sich auf eine Kinesiologin oder einen Kinesiologen einlässt.
Einzelsitzungen Kinesiologie und Arbeitsmittel „Muskeltest“
Um ein Problem zu erfassen, wird in einer Einzelsitzung der sogenannte Muskeltest eingesetzt. Dieser Test macht sich zunutze, dass das menschliche Gehirn je nach Reiz die Muskelgrundspannung ändern kann. Dies ist eine natürliche Anpassungsreaktion. Diese Spannungsänderung wird dank des Muskeltests spürbar und so gibt ein Muskel Auskunft über ein momentanes Ungleichgewicht im „System Mensch“. Hier wird also der menschliche Verstand (Bewusstsein) durch die Körperintelligenz (Unterbewusstsein) ergänzt. Mehr über den Muskeltest erfährst du hier.
Meist wird Kinesiologie in Einzelsitzungen erlebt, was du dir ungefähr so vorstellen kannst: Du bringst ein Thema in die Sitzung mit. Etwas, das dich beschäftigt, du erreichen oder loswerden willst. Im Gespräch und mit dem Muskeltest wird nun eine Bestandesaufnahme zu deinem Thema gemacht. Dabei ist es in meinen Augen wichtig, dass du deinen Muskeltest selbst interpretierst, denn du weisst am Besten über dich Bescheid. Du bist der Boss! Im Lauf der Sitzung entwickelt sich aus der Bestandesaufnahme dein momentanes Ziel. Dieses Ziel wird nun so lange mit körperorientierten Übungen und Techniken bearbeitet, bis du und deine Muskeln sich vorstellen können, es auch zu erreichen. Je nach Ziel auch so lange, bis sich das aktuelle Symptom verändert oder aufgelöst hat (z.B. Schmerzen oder starke Gefühle). Dies wird „balancieren“ (von „ausgleichen“) genannt.
Alle Techniken und Methoden, die mir bekannt sind, werden übrigens am bekleideten Menschen angewendet, und viele Schweizer Krankenkassen leisten im Rahmen einer Zusatzversicherung Beiträge an Einzelsitzungen.
Wozu eignet sich die nicht-medizinische Kinesiologie?
Kinesiologie eignet sich für alle Menschen, unabhängig von ihrer Religion, Herkunft, sozialen Klasse oder ihrem Geschlecht. Von ihr profitieren Erwachsene und Kinder gleichermassen. Sie ist Hilfe zur Selbsthilfe und unterstützt die Selbstheilung. Sie kann als Ergänzung zu schulmedizinischen oder psychologischen Therapien, aber auch als eigenständige Methode eingesetzt werden. Gute Resultate erzielt sie unter anderem gegen
- (chronische) Schmerzen
- Verspannung und muskuläre Probleme
- Lernblockaden
- Lampenfieber und Prüfungsangst
- mentale Unsicherheit im Sport / Wettkampf
- Unsicherheit und mangelndem Selbstwert
- Selbstsabotage, z.B. bei der Ernährung
Ethik
Die nicht-medizinische Kinesiologie erhebt nicht den Anspruch, zu heilen und es werden auch keine Diagnosen im schulmedizinischen Sinn gestellt. Wesen und Überzeugungen der Klientinnen und Klienten werden respektiert.
Zusammenfassung
Allgemein kann man die komplementärtherapeutische (nicht-medizinische) Kinesiologie als Sammlung verschiedener manueller Techniken aus der Osteopathie, Chiropraktik, Physiotherapie und der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) bezeichnen. In Einzelsitzungen werden im Gespräch und mit dem Muskeltest individuelle Themen definiert und persönliche Ziele erarbeitet. Körperübungen und manuelle Techniken helfen, diese Ziele auch umzusetzen oder Symptome aufzulösen.
Je nach Berufshintergrund und Ausbildung der Kinesiologin oder des Kinesiologen fliessen weitere Gedankengebäude in die Arbeit ein. Die offiziell gültige Definition der Kinesiologie in der Schweiz findet sich in der „Methodenidentifikation Kinesiologie“ der Arbeitswelt KomplementärTherapie (OdA KT).
Was ist Komplementärtherapie?
Was ist Kinesiologie? ♯ 2: Der kinesiologische Muskeltest